3. Das Hadern am Lesen
Liebe Leserin, lieber Leser, liebe:r Leser:in,
An diesem Text habe ich gehadert.
Ich saß gestern im Zug und hatte ein interessantes Gefühl im Bauch und ein anderes im Hals. Etwas ist in Bewegung gekommen. Ich fühlte mich traurig und glücklich zugleich. Folgende Gedanken gingen mir durch den Kopf:
>> Ich vergesse manchmal, was ich mag. Das klingt banal, aber das ist ganz schön unangenehm. Da sitz ich dann da und empfinde nicht mehr dieses große Interesse an den Dingen, die ich liebe, und frage mich: Wozu? Wozu das alles, wenn es mir doch nicht das gibt, was ich brauche? Wenn es doch immer wieder vergeht?
Ich warte dann regelrecht darauf, dass ein Autor mich mit seinem Buch wieder richtig abholt. Gleichzeitig bin ich total verschlossen und lese nichts über die ersten Seiten hinaus. Ich muss mir dann wieder ein Herz fassen und sagen: ja, damit versuche ich es jetzt. Ich lasse mich mal darauf ein, vielleicht versteht es mich ja diesmal.
Schließlich lese ich auch, um mich seelisch verbunden zu fühlen. Ich liebe und schätze die Bücher am meisten, die meine Wahrheiten teilen und die auf mich wirken, als wären sie genau für mich in dieser Lebenssituation geschaffen. Das ist etwas Besonderes und ich erwarte es nicht von jedem Buch, aber es ist schon das, wonach ich mich sehne und was mir sehr fehlt, wenn ich es nicht habe.
Was habe ich bei „Vom Ende der Einsamkeit“ von Benedict Wells geheult. Ich habe es mir extra portioniert, habe im Zug abgebrochen zu lesen, wenn ich gemerkt habe, hier will ich weinen, hier will ich richtig reinfühlen und ich möchte mich dieser Erfahrung nicht berauben, weil ich sie in der Öffentlichkeit unterdrücke. Es ist nicht so als würde ich nicht auch in der Öffentlichkeit weinen, aber ich wusste bei dem Ende dieses Buches, dass es Wellen schlägt und dass ich Zeit brauchen werde. Dass ich darüber fühlen werde, dass ich mein Leben reflektieren und Erlebnisse neu einordnen werde, dass ich darüber schreiben und reden werde. Das es mich so sehr bewegt. Dass ich sagen werde: das ist mein neues Lieblingsbuch! Und gleichzeitig bleibt es ein gewisses Geheimnis, was da genau zwischen mir und dem Buch passiert ist. Das ist für mich das besondere am Lesen.
Es sind diese Erlebnisse, die ich suche, diese Tiefe, dieses Gefühl von: dieser Mensch ist wie ich. Er sieht die Dinge wie ich. Also ist meine Welt auch wahr.
Denn es ist anstrengend, eine Welt einsam zu verteidigen, sie gegen andere abzugrenzen und zu versuchen, darin ein bestimmtes Konstrukt, eine Idee unter Kontrolle zu halten. Ich war nie so eine Person, die in ein Thema komplett einsteigt, das ist mit dem Schreiben vielleicht das erste mal.
Manchmal vergesse ich sogar, dass ich überhaupt schreibe und weiß nicht mehr, ob ich Schriftstellerin sein möchte. Dann tagträume ich mich ans Meer und denke, ich müsste nur auswandern, dann würde alles besser werden. Was natürlich erstmal nur ein Tagtraum ist und in der Realität anders aussehen würde. (Obwohl ich finde, dass uns (Tag-)Träume auch viel erzählen können und das mit dem Meer ein wieder kehrendes Motiv bei mir ist, aber dazu vielleicht an anderer Stelle.) Ein Freund meinte neulich, er findet es schade, dass der Begriff des „Dichters“ verloren gegangen ist. Dass wir einen gewissen Wert und Geist verlieren würden, der in alter Literatur steckt. Den Gedanken fand ich inspirierend. Trotzdem weiß ich nicht, wie ich mich als Autorin der Welt gegenüber aufstellen soll und vergesse immer wieder das Romantische daran, habe ich schließlich noch andere Standbeine und Baustellen. Ich denke, ich wachse gerade in diese Autorinnenpersona hinein.
Eigentlich weiß ich, was ich will: Ich möchte anderen Menschen und mir diese Erfahrung schenken, gesehen zu werden und sich selbst wieder in die eigene Geschichte einzufügen. Ich möchte der Entfremdung von uns und unserer Lebenserfahrung entgegen wirken. Was ich wirklich gut kann, ist mich auszudrücken, also möchte ich Sprache als mein Werkzeug nutzen.
Was ich sagen wollte, wahrscheinlich ist es okay, manchmal nicht so genau zu wissen, was man mag, wer man ist und wohin es geht. So lange man dran bleibt und sich mit anderen austauscht. Ich habe gerade eine Liste angefangen mit Musik, Podcasts, Autor:innen, Filmen usw., die ich mag. Da steht jetzt nicht so viel, aber es wird wachsen. Ich möchte dem mehr Wert geben. Dass es Schwankungen in den Vorlieben gibt, ist normal, wir sind ja keine Maschinen. <<
Heute sitze ich wieder im Zug, überarbeite diesen Artikel und zweifle an der Veröffentlichung. Ob es das Richtige ist, hier zu schreiben und ob ich darauf immer stolz sein werde? Ich weiß es nicht, aber gerade fühlt es sich okay an und ich versuche es einfach mal.
Liebe Grüße und viel Spaß beim Lesen und Schreiben oder darüber nachdenken, warum du gerade weder liest noch schreibst, das wird wieder besser,
Vannina